Da steh‘ ich nun, ich armer Tor und bin so klug als wie zuvor!

Gast | 2. Oktober 2018 | Bühne, Kultur | Ein Kommentar

(Johann Wolfgang von Goethe)

….

Kultur-Hagen Rether-Angerhalle–Tuttlingen-Moehringen-29.09.18

Autor: Stefan Sakowitz

Das aktuelle Programm (Liebe, Vers.2018)
von Hagen Rether besitzt mehrere freie
Rahmen . Mit den stilistischen Eigenmarken
„Ich verstehe es nicht…“; „Geht es Ihnen auch 
so?“ und einem wechselnden Nonsensebruch
(diesmal: „Haben Sie schon Winterreifen?“),
unterteilt der Wahl-Niederrheinlaender
sein Programm.

Zwischen dieser ordnenden Absatzbildung
spricht der effektiv antidiabolische Philosoph
(s. Mephisto in Faust) ueber 3 Stunden frei
zur  intellektuellen und mentalen  Kondition
sowie Struktur der sich modern waehnenden
Industriewelt.

Ja. „Wir sind die Dornenkrone der Schoepfung.“
„Neanderthaler mit Laserschwert“. Und Hagen
Rether kennt sein Publikum. Wir sind die
„Untertanen“, ein wertesuchendes Voelkchen,
„das sich diese Werte wie ein Exoskelett
ueberziehen muss, weil es innerlich hohl ist.“
Applaus. Im Suedwestdeutschen gilt langsames
Sprechen als Nachweis fuer tiefe Gedanken,
nicht fuer langsames Denken. Hagen Rether
spricht schnell und bekommt auch fuer die bit-
tersten Entschleierungen Beifall. „Auf der
schwaebischen Alb haben die Vorhaenge-
schloesser an der gelben Tonne, damit der 
Nachbar nichts reinwerfen kann. Das muss 
doch der ideale Wohnort fuer Jens Spahn 
sein.“ Und im Saal klatschen 500 in casual ge-
wandete, laendliche Badenschwaben. 

Hagen Rether macht keinen Hehl aus seiner
Frontposition als oeko-pazifistischer Dauer-
Wahlkaempfer, und so behandeln die beiden
Hauptgruppen seiner satirischen Beleuchtungen
den Vegetarismus und die Vorspiegelungen der
katholischen Religion („Wissen Sie, warum die
Kirchen so reich sind? Weil die Bischoefe soviel 
arbeiten!“; „Domplatte? Sexueller Misbrauch? Der
wirkliche Skandal war doch, dass der Misbrauch
diesmal VOR dem Koelner Dom stattfand, und 
nicht drinnen.“) Und wie jede*r gute Gruene
kaempft auch Rether mit seiner nun schon
spukhaften Sympathie fuer Angela Merkel
(„Geht es Ihnen mittlerweile auch so? Wenn 
Sie Donald Trump sehen, beginnen Sie erleicht-
ert zu sein, dass wir Angela Merkel haben?“,
aber auch kritisch „Angela Merkel geht welt-
weit mit einem Wertekoefferchen hausieren, 
das ihr die Linksliberaloekospinnermulti-
kultis gefuellt haben.“)
Und eben auch „Die CDU ist die einzige Partei, 
die nicht als Umfallerverein bezeichnet werden 
kann. Sie hat noch nie fuer irgendwas gestanden.“

Der humorige Philosoph hadert mit sich selbst
und seinem Publikum. Natuerlich witzelt Rether
sarkastisch, dass er „seinen ARTE- und 3SAT-
Ausweis erst beantragen musste (Fuer Nicht-Elite 
ist Arte verschluesselt.)“ und spottet ueber Einen
nicht namentlich genannten badisch-bayerischen
Industriellen („Porsche-Vorstand: Der, wo hier lebt, 
muss auch Deutsch koennen.“) Applaus.
Rether taxiert sein Publikum auf Fachhochschulreife+,
und flechtet dem Bildungsniveau angemessen weite
Passagen mit Faekalsprache, Schmuddelsex und
Sodomie ein. Hagen Rether kennt sein Publikum
wirklich. („Christian Lindner: Narzisstische Luftpumpe 
in der Adoleszenzkrise.“)

Ein sehr guter Kabarettist, der Rether nunmal ist, holt
sich regelmaessig selbst vom Sockel. Er beklagt unser
aller Empathieverlust, unsere Unmuendigkeit, Brueche,
Resignationen und Schwaechen, die fehlerhaften inner-
lichen Referenzgroessen und unsere primitive, fleisch-
liche Gier. Von eventuellen suizidalen Reaktionen
sollte uns dann ein flink vorgetragenes Jazz-Klassik-
Medley zum Abschluss abhalten. Gelungen.

Und so stand man*frau dann nach dreieinhalb, wie
im Fluge vergangenen Stunden in der schon leicht
frostig kalten („Haben Sie schon Winterreifen?“) Luft
und fragte sich: „Hier steh ich nun ich armer Tor……“
So muss das sein, wenn ein Meister der Philosophie
arbeitet. Animation zum Selbst-Denken.
Gut angelegte 30 Euro…le.