Wohlfahrtsstaat – Versorgungsstaat – Sozialstaat
|Welchen Staat wollen wir?
In den Medien wird seit langem über die Begriffe Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat divers diskutiert. Jeder Diskutant ordnet den Begriffen unterschiedliche Inhalte zu.
Ein kurzer Ausflug in die Gründungsphase der BRD lässt uns erkennen, dass unsere Gründungsväter mit dem Grundgesetz eine weltweit anerkannte und respektierte Verfassung schufen. In dieser Verfassung sind die Menschenrechte, die Gewaltenteilung, das Förderale System und last but not least das Sozialstaatsprinzip fest verankert. So fest verankert, dass den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes ein Ewigkeitsrecht zugestanden wurde. Eine Änderung wurde ausgeschlossen, bis auf den Fall, dass eine neue Verfassung per Volksentscheid eingeführt würde.
Einen besonderen Status erhielt das Sozialstaatsprinzip. Ludwig Erhard, der Begründer des Wirtschaftswunders in den 50- und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtete mit der sozialen Marktwirtschaft eine Wirtschaftsordnung, die einzigartig auf der Erdkugel war. Die Grundaussage dieser Wirtschaftsordnung war eine kollektive Wohlstandsmehrung. Ludwig Erhard hat in seinem Buch (1957) „Wohlstand für Alle“ Normen beschrieben wie das verwirklicht werden könnte.
In dieser kollektiven Wohlstandsmehrung sollten alle gesellschaftlichen Gruppen in gleichem Maße teilhaben. Dies geschah auch bis weit in die 70-Jahre des letzten Jahrhunderts. Erhard verband seine Wirtschaftsordnung mit einem freien Wettbewerb und der Verantwortung des Einzelnen für sich selbst. Deswegen wird sein Werk von Seiten der Sozialpolitiker als auch von Vertretern des Neoliberalismus als Beweis für ihre jeweiligen Argumente benutzt.
Aber Erhards Werk erschien 1957. Zum einen war die Welt aufgeteilt in zwei sich in höchst widersprüchliche Richtungen entwickelnde Gesellschaftsordnungen und den damit verbundenen Wirtschaftsordnungen. Erhard wollte hier den Mittelweg beschreiben. Aber er warnte auch vor dem Versorgungsstaat, einer um sich greifende Mentalität der Kollektivierung der Lebensplanung, die weitgehende Entmündigung des einzelnen und die zunehmende Abhängigkeit vom Kollektiv oder vom Staat, so Erhard, lähme den wirtschaftlichen Fortschritt und erzeuge den „sozialen Untertan (S. 263).
Das war 1957. Die Ludwig-Erhard-Stiftung ist nicht erfreut, wenn der neu gegründete Verein „Neue Soziale Marktwirtschaft“ sich auf Ludwig Erhard beruft und ihn als Alibi für ihre Denkweise des unregulierten Marktes benutzt. Gerade das wollte Erhard nicht. Der Staat, als Vertreter der Bürger, sollte immer gestalten zum Wohle aller und nicht nur zum alleinigen Wohle der Wirtschaftsinteressen. Straubhaar bezeichnete Erhards Buch als banal, aber es sei wichtig gewesen, Vertrauen in die Politik zu schaffen. Und das ist Erhard zweifellos gelungen. Vertrauen, in kollektives Wachstum. 10 Jahre später, als Erhard als Kanzler gescheitert war, nicht weil er das Vertrauen Bürger verloren hatte, sondern weil er das Vertrauen seiner Partei verloren hatte, brachte der Soziologe Oswald Nell-Breuning in seinem Buch Baugesetz der Gesellschaft (erschienen im Herder Verlag 1968, Neuauflage 1990) neue Aspekte in die Diskussion. Nell-Breuning, ein Priester, Jesuit und Ökonom und Vertreter der katholischen Soziallehre, entwickelte das Denkmodell von Solidarität und Subsidiarität.
So schreibt er auf Seite 16 seines Werkes: „So sind in der Gemeinschaft alle und jeder einzelne für das Wohl und Wehe der Gemeinschaft verantwortlich und haben dafür einzustehen“.
Beide Denkweisen, Erhardt`s und Nell-Breuning`s, basieren auf der Staatsrechtslehre Hermann Hellers, der in der Weimarer Republik, den Rechtsstaat nicht nur auf normative Fragen zu beschränken wollte, sondern die Erweiterung auf einen sozialen Rechtsstaat forderte. Dies bedeutete, dass die Staatsrechtslehre auch soziale, politische und historische Aspekte des Staates in eine juristische Wissenschaft vom Verfassungsstaat zu berücksichtigen hätte. Er fragte sich, welches Interesse, so die Zuspitzung des Staatsrechtlers angesichts der krisengebeutelten Republik von Weimar, sollten die sozial Schwachen eigentlich daran haben, gute Bürger eines Staates zu sein, wenn der sich um ihre Lebensinteressen nicht kümmert? Ist es heute wieder der Fall?
Bei der Vielzahl unserer PolitikerInnen scheinen diese Grundlagen unserer Gemeinschaft nicht angekommen zu sein. Entweder sie verweigern sich dieser Erkenntnis bewusst oder sie sind schlichtweg unwissend. Beide Alternativen sind für unsere Demokratie und unser gemeinschaftliches Zusammenleben nicht förderlich. Sie sind sogar der Sprengstoff, der unsere Demokratie implodieren lassen könnte. Ein anderer Staatsrechtler, Max Weber, hat als Voraussetzung für den/die PolitikerIn gefordert, dass sie über Leidenschaft für die Sache, Verantwortungsbewusstsein und Augenmaß verfügen sollten.
Wenn ich diese Aussagen auf unsere derzeitige Politik und die Politikergarde übertrage und nach den Eigenschaften frage, muss ich feststellen, dass hier ein großes schwarzes Loch klafft. Ein Loch, dass unsere demokratische Grundordnung langsam aber sicher in sich hineinzieht und uns in die Nähe der Orwell´sche Gesellschaft bringt.
Wir haben ein Grundgesetz, das die Verwirklichung der Postulate von Heller und Nell-Breuning möglich machen würde.
Doch welche Konsequenz ist damit verbunden? Befinden sich unsere PolitikerInnen noch auf dem Boden des Grundgesetzes? Was verstehen sie unter Sozialstaat? Wie hat sich unsere Gesellschaft gewandelt? Haben wir das Wir-Gefühl verloren? Ist Neid die Triebkraft unseres Konsums – auch Anpassungskonsum genannt.
Wenn die Vorsitzende der SPD von Solidarität spricht, meint sie das Gleiche was Nell-Breuning darlegte?
Es ist festzustellen, dass mit dem Thatcherismus zu Beginn der 80er Jahre die Denkweise sich geändert hat. Das „wir“ wurde aus dem Wortschatz der neoliberal agierenden Politikerschicht gestrichen. Der Grundsatz, dass Eigenverantwortung und Gemeinschaftsverantwortung sich gegenseitig bedingen, wurde außer Kraft gesetzt. Gewinne werden privatisiert und Verluste sozialisiert.
Der allgegenwärtige Ruf der Wirtschaftsbosse nach dem Erhalt ihrer Wettbewerbsfähigkeit bedeutet doch nur, dass das Kollektiv, die Wirtschaft stützen und schützen soll. Verrottete Infrastruktur, steigende Mieten, Subvention von Löhnen durch Aufstockungszahlungen durch das Job-Center, Personalabbau in den Verwaltungen werden billigend in Kauf genommen zum Wohle der Renditen international agierender Konzerne oder großen Familienunternehmen. Besinnen wir uns der alten Weisheiten angepasst an die reale Situation. Darwin hatte Recht, wenn er behauptete, dass nur der Fitteste überlebt. Er meinte nicht den, der den anderen niedermacht oder auslaugt, sondern den, der sich der Umwelt am besten angepasst hat. Einstein stellte fest, dass es keinen Sinn macht Fehlentwicklungen mit dem gleichen Werkzeug auszumerzen, dass die Fehlentwicklungen verursacht hat.
Ich kann nur an alle den Aufruf starten, lasst uns Politik anders machen.